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Aktuelle Pressemitteilungen - Sachsen-Anhalt

75. Jahrestag der Errichtung des KZ
Lichtenburg /
Innenminister Holger Hövelmann: Die Geschichte darf sich nicht wiederholen

20.06.2008, Magdeburg – 150

  • Ministerium für Inneres und Sport

 

 

 

 

 

 

 

 

Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 150/08

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ministerium des Innern -

Pressemitteilung Nr.: 150/08

 

 

 

Magdeburg, den 20. Juni 2008

 

 

 

 

 

75. Jahrestag der Errichtung des KZ

Lichtenburg /

Innenminister Holger Hövelmann: Die Geschichte darf sich nicht wiederholen

 

Anlässlich

der Gedenkveranstaltung mit anschließender wissenschaftlicher Tagung zum 75. Jahrestag der Errichtung des

Konzentrationslagers Lichtenburg und des Verbots der SPD wandte sich Innenminister Holger

Hövelmann (SPD) an die Tagungsteilnehmer:

 

¿Sehr

geehrte Damen und Herren,

liebe Genossinnen und Genossen,

 

ein

Redebeitrag zur Geschichte von nationalsozialistischer Verfolgung und

sozialdemokratischem Widerstand ist auch in einem gewöhnlicheren Rahmen als

diesem keine Aufgabe, die man leichthin absolvieren könnte. An diesem Ort ist

unver­meidlich ein Gefühl der Beklemmung damit verbunden, hier, im Angesicht

der Kerker, in denen Menschen misshandelt, ernie­drigt und ¿ scheinbar ¿ ihrer

Würde beraubt wurden, weil sie dieselben Grundwerte und -überzeugungen hatten

wie wir.

 

Mit

Reichstagsbrand und Notverordnung, mit der Verwendung der SA-Schlägerbanden als

¿Hilfspolizei¿, mit dem Ermäch­tigungsgesetz und der Errichtung der ersten

Konzentrations­lager begann der Weg Deutschlands in eine zwölfjährige Diktatur,

deren Programm Unterdrückung, Angriffskrieg und Völkermord waren und die erst

von außen aufgehalten und beseitigt werden konnte.

 

Es

ist gut, sich immer wieder vor Augen zu führen, wie es mit Deutschland so weit

kommen konnte und welche historische Rolle die Sozialdemokratie spielte.

 

Mit

der Novemberrevolution 1918 und der Weimarer Verfassung 1919 war endlich auch

auf deutschem Boden eine demokratisch verfasste Republik mit garantierten

Grundrechten und Gewal­tenteilung entstanden, eingebunden in die

Völkergemeinschaft.

 

Dass

diese Republik schon elf Jahre später sturmreif geschos­sen wurde, ist weder

allein aus den institutionellen Mängeln der Verfassungsordnung zur erklären ¿

die gab es in anderen westeuropäischen Staaten auch ¿ noch aus äußeren

Druckfakto­ren wie Reparationslasten und Weltwirtschaftskrise.

 

Die

erste Demokratie auf deutschem Boden ging vor allem und in erster Linie an

einem Mangel an Demokraten zugrunde:

 

·

Auf der politischen Rechten gab es von Anfang an,

lange vor dem Aufstieg der NSDAP, ein bürgerlich-reaktionäres Lager aus der

Deutschnationalen Volkspartei, dem Stahlhelm und Teilen der Deutschen

Volkspartei, das mit der Monarchie eng verbunden gewesen war, der Demokratie

offen feindlich gegenüberstand und großen Einfluss in Justiz und Beamtenschaft

sowie im Großagrariertum und der Industrie besaß. Dieses Lager wuchs auf Kosten

der demokratischen bürgerlichen Parteien, die die Verfassung mittrugen.

Mit der NSDAP entstand eine Kraft, die diese demokratiefeindliche Grundhaltung

radikalisierte, antisemitisch auflud und unter den Bedingungen rasant

wachsender Massenarbeitslosigkeit die Abstiegsängste gerade der unteren

Mittelschichten nutzen und missbrauchen konnte.

Auf der politischen Linken gab es mit der KPD, die nach der Vereinigung mit dem

linken Flügel der USPD zur Massenpartei geworden war, eine wachsende Kraft, die

die Vorteile der demokratischen Republik auch für die Kämpfe der

Arbeiterbewegung ignorierte, die SPD als Hauptfeind auserkoren hatte und die

Errichtung eines Sowjetdeutschland propagierte.

 

·

Von Beginn an schwach ausgeprägt war das Lager der

verfassungstreuen bürgerlichen Mitte um das an der katholischen Soziallehre

orientierte Zentrum und die liberale Deutsche Demokratische Partei.

 

·

Die Sozialdemokratie hatte in dieser Konstellation

neben diesen kleineren Parteien keine natürlichen Bündnispartner. Der Weg einer

Einbindung der KPD in parlamentarische Mehrheiten in einzelnen Ländern wurde

von der Parteiführung gestoppt, teilweise unter Zuhilfenahme der Reichswehr.

Kooperationen mit der Rechten im Reichstag waren instabil und schwächten die

parlamentarische Demokratie weiter.

 

Der

23. März 1933, der Tag der Entscheidung des Reichstages über das

Ermächtigungsgesetz, ist für die deutsche Sozialdemokratie in der Rückschau ein

Tag des Stolzes und der tiefen Niederlage zugleich:

 

·

ein Tag des Stolzes, weil die SPD stellvertretend

für alle aufrechten Deutschen als einzige Partei Nein sagte: Die Kommunisten

waren bereits verboten, ihre Abgeordneten inhaftiert oder geflohen. Die

geschrumpften Parteien der demokratischen Mitte versuchten durch Zustimmung

ihre Existenz unter dem NS-Regime zu retten. Die SPD widerstand;

 

·

ein Tag der tiefen Niederlage, weil aus dieser

Ablehnung kein organisierter Widerstand hervorging. Die SPD war zu diesem

Zeitpunkt zerrissen zwischen der ins Exil gegangenen Mehrheit des

Parteivorstandes, die die Arbeit in der 

Illegalität zu organisieren begann, und der in Deutschland gebliebenen

Vorstandsminderheit, die vergebens versuchte, die Legalität der Organisation zu

bewahren, die aber bereits vor dem Verbot am 21. Juni 1933, heute vor 75

Jahren, zerfallen war.

 

Über

diese beiden Linien können wir heute nicht moralisch richten. Wir können aber

Lehren daraus ziehen, vor allem die Lehre, dass Widerstand nicht zu spät

ansetzen darf und dass eine Partei allein einen demokratischen Staat nicht aus

einer Minderheitenposition tragen kann.

 

Nach

einer Statistik der Gestapo saßen sechs Jahre später in Deutschland 302.562

politische Häftlinge ein, der weit überwiegende Teil davon aus der Arbeiterbewe­gung.

Bis 1944 ¿ noch vor dem 20. Juli ¿ wurden laut NS-Justizministerium 11.881

Todesurteile vollstreckt. Die in den KZs ermordeten oder auf andere Weise umge­kommenen

Häftlinge sind nicht einmal dabei.

 

Sozialdemokraten

haben im Widerstand und im Exil unermüdlich und mit höchstem persönlichen

Risiko an einer besseren Zukunft für Deutschland gearbeitet. Es bedurfte erst

der militärischen Niederlage des Hitlerregimes, ehe die Voraussetzun­gen für

einen Neubeginn geschaffen werden konnten. Und es brauchte weitere 45 Jahre,

bis Sozialdemokraten vereint in ganz Deutschland wieder für die soziale

Demokratie streiten konnten.

 

Am

Anfang habe ich gesagt, dass die NS-Schergen die Insassen der Lichtenburg und

all der anderen Konzentrationslager ihrer Würde berauben wollten. Doch all die

Demütigungen, Bestrafungen und Folterungen konnten die Würde der Gefangenen

nicht brechen, im Gegenteil: Ihr Durchhaltevermögen, ihr Widerstand, ja, auch

ihr Sterben in ungebrochener Überzeugung strahlen bis heute große Würde und

Menschlichkeit aus. Gedenkstätten wie die, die hier entstehen wird, mahnen uns

nicht nur, zu welcher Barbarei Menschen fähig sind, sondern zeigen auch, mit

welcher moralischen Kraft sie noch unter den schlimmsten Bedingungen

widerstehen können.

 

Das

Grundgesetz, das noch unter dem Eindruck der von außen niedergerungenen

Naziherrschaft geschrieben wurde und das seit nunmehr bald 18 Jahren für ganz

Deutschland gilt, postuliert nicht ohne Grund gleich am Anfang und ohne jede

Einschränkung: ¿Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu

schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.¿

 

Dieser

Anspruch ist heute für alle demokratischen Kräfte in Deutschland eine

Selbstverständlichkeit. Und er markiert zugleich die Trennlinie zu den Rechts­extremisten

egal welcher Schattierung, die die Wahnvorstellung von der biologisch

begründeten Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen propagieren.

 

Unser

Feind ist der gleiche geblieben, auch wenn die gesellschaftlichen Bedin­gungen

der heutigen Bundesrepublik in keiner Weise denen der Weimarer Republik

gleichen. Selbst ein scheinbar so harmloser Slogan wie der der jüngsten

NPD-Mitgliederwerbekampagne ¿Sozial geht nur national¿ macht die fundamentalen

Unterschiede zu unserem eigenen Gesellschaftsbild deutlich. NPD und Gleich­gesinnte

wollen ¿Gemeinschaft¿ herstellen durch die aggressive Abgrenzung nach außen;

ihre ¿Volksgemeinschaft¿ entsteht nicht etwa durch gerechte Verteilung von

Chancen oder fairen Interessenausgleich nach innen, sondern durch den Hass auf

andere Völker, Religionen und sogenannte ¿Rassen¿.

 

Für

Demokratie und Zivilisation gibt es keine Ewigkeitsgarantie. Als vor 75 Jahren

kommunistische und sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete, Gewerkschafts­funktionäre

und viele andere, die dem NS-Regime im Wege waren, in der Lichtenburg

eingekerkert wurden, da waren kaum mehr als drei Jahre vergangen, seit der

letzte sozialdemokratische Reichskanzler Hermann Müller ¿ der letzte

demokratisch legitimierte Reichskanzler überhaupt ¿ zurücktreten musste. Der

Verfall der Republik schritt unter dem Druck ihrer Feinde von innen und der

Weltwirtschafts­krise von außen rasch voran.

 

Die

Lehren aus dieser Degeneration und Zerstörung einer zivilisierten Gesellschaft

sind in Deutschland verinnerlicht worden, müssen aber von jeder Generation neu

angeeignet werden, wenn Geschichte sich nicht wiederholen soll. Eine dieser

Lehren ist: Die Demokratie muss eine wehrhafte Demokratie sein, die sich gegen

die Feinde der Freiheit rechtzeitig, vorausschauend und entschieden zur Wehr

setzt.

 

Was

sind die Bausteine für eine wehrhafte Demokratie?

 

·

Der erste und wichtigste Baustein sind Bürgerinnen

und Bürger, die sich ihrer demokratischen Rechte bewusst sind, sie aktiv

wahrnehmen und damit die demokratischen Institutionen legitimieren. Ich

unterstütze nachdrücklich die Empfehlungen der Autoren einer in dieser Woche

vorgestellten Studie im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, die zur

Immunisierung gegen rechtsextremes Gedankengut den Ausbau demokratischer

Mitwirkungsmöglichkeiten gerade für junge Menschen vorschlagen.

 

·

Der zweite Baustein sind Organisationen, die

politischen Willen auf allen Ebenen der Gesellschaft tragen, formulieren,

weiterentwickeln und durchsetzen können. In Deutschland hat sich die Demokratie

historisch als Parteiendemokratie entwickelt. Deshalb ist es kein gutes

Zeichen, wenn alljährlich die sinkenden Mitgliederzahlen von Parteien

veröffentlicht werden, als handle es sich um ein Naturgesetz. Wir brauchen den

Mut, wieder offen um die verbindliche Mitwirkung in Parteien, aber ebenso in

Gewerkschaften und anderen Verbänden zu werben. Eine Zuschauer­demokratie ist

eine gefährdete Demokratie.

 

·

Der dritte Baustein sind Gesetze und ausführende

Organe, die die potentiellen Opfer vor politisch motivierter Gewalt schützen

und die Feinde der Freiheit daran hindern, die demokratischen Institutionen zu

missbrauchen, auszuhöhlen, zu bedrohen oder gar zu beseitigen.

 

Zu diesen Gesetzen, die die

Demokratie schützen sollen, gehört die Bestimmung in Artikel 21 des

Grundgesetzes: ¿ Parteien,

die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger darauf ausgehen,

die freiheitliche demokratische Grund­ordnung zu beeinträchtigen oder zu

beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, sind

verfassungswidrig. Über die Frage der Verfassungs­widrigkeit entscheidet das

Bundesverfassungsgericht.¿

 

Es gibt in unseren Gesetzen ¿ auch im Grundgesetz ¿ wesentlich unklarere

Normen. Diese ist glasklar. Unsere Aufgabe ist in einem Fall wie der NPD

eigentlich nur zu prüfen, ob die genannten Voraussetzungen erfüllt sind und ob

ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht mit gutem Aussicht auf Erfolg

geführt werden kann. Denn selbstverständlich besteht Einigkeit darüber, dass

die antragsberechtigten Verfas­sungsorgane ¿ Deutscher Bundestag, Bundesrat und

Bundesregierung ¿ nur bei solch gesicherten Aussichten nach Karlsruhe ziehen

sollten.

 

Damit hört die Einigkeit aber auch fast schon auf. Nur eins steht noch

fest: Ein ¿Allheilmittel¿, wie es auch in einer Fragestellung in der Einladung

zur heutigen Tagung heißt, ist ein Parteienverbot auf keinen Fall. Ich kenne

aber auch niemanden, der das behauptet.

 

Sachsen-Anhalt

war eines der ersten Länder, die den Anstoß für eine neue Verbots­diskussion

gaben. Damit wollten wir auch auf die Ent­wicklungen in Sachsen und

Mecklenburg-Vorpommern reagieren, wo die NPD mühelos in die Landtage einzog.

Wir wollen nicht warten, bis die NPD flächendeckend zu einer parlamentarischen

Kraft wird. Und wir wollen uns auch nicht darauf verlassen, dass sie sich mit

Füh­rungsstreit und Finanzquerelen selbst ins Aus manövriert.

 

Der legale Status der NPD als

Partei bietet den Rechtsextremen nicht nur die Möglichkeit, ihr Gedankengut

ungehindert zu verbreiten, er verschafft ihnen durch Wahlkampfkosten­erstattung

und die Finanzierung ihrer Fraktionen auch noch staatliche Fördermittel, die

ausgezahlt werden müssen, auch wenn ihr Missbrauch absehbar ist. Ohne ein

Verbot kann diese staatliche Alimentierung der Feinde der Demokratie nicht

ausgehebelt werden.

 

Ich finde es fatal, dass in der

Diskussion häufig ein Parteienverbot einerseits und die politische und

gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus andererseits

gegeneinander gestellt werden. Beides gehört zusammen. Die Politik macht sich

unglaubwürdig, wenn wir bei Besuchen im Politikunterricht von den Schülerinnen

und Schülern couragiertes Einschreiten gegen Rassismus, Anti­semitismus und

Demokratie­feindlichkeit fordern ¿ und wenn dieselben Schülerinnen und Schüler

am Samstag drauf erleben müssen, wie unsere Polizei eine Demonstra­tion von

Leuten absichern muss, die genau das predigen. Auch der Polizei ist diese Situation immer weniger

zuzumuten. Niemand glaubt, dass ein Verbot rechtsextre­mes

Gedankengut beseitigt. Aber es verschafft uns unvergleichlich bessere Möglich­keiten,

es zu ächten und seine Verbreitung zu behindern.

 

Die Materialsammlung, die wir zur Prüfung eines neuen Verbotsantrags

zusammen getragen haben, belegt eindrucksvoll die aktiv kämpferische,

aggressive Haltung der NPD gegen die freiheitlich-demokratische Grund­ordnung.

Ich denke, dass dieses Material ebenso wie die Information der anderen 15

Länder nicht umsonst gesam­melt wurde. Ich fürchte, dass die Aktivitäten von

rechts neue Anlässe schaffen, die eine erneute Verbotsdiskussion auslösen

werden. Für diese Diskussion sind wir gut gerüstet.

 

¿Wir deutschen Sozialdemokraten¿, sagte Otto Wels in seiner

unvergessenen Reichstagsrede, mit der er die Ablehnung des

Ermächtigungsgesetzes durch die SPD-Fraktion begründete,  ¿bekennen uns in dieser geschichtlichen

Stunde feierlich zu den Grundsätzen der Menschlichkeit und der Gerechtigkeit,

der Freiheit und des Sozialismus. Kein Ermächtigungsgesetz gibt Ihnen die

Macht, Ideen, die ewig und unzerstörbar sind, zu vernichten.¿

 

Es hat auch keine Lichtenburg und kein Buchenwald geschafft. Auch das

wird die Gedenkstätte zeigen, die hier jetzt endlich entsteht. Ich bitte Sie

alle, für Besuche in der Lichtenburg zu werben, damit diese Botschaft bei

vielen Menschen ankommt.¿

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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