Aktuelle Pressemitteilungen - Sachsen-Anhalt
Regierungserklärung von Ministerpräsident
Böhmer: ?Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft?
12.10.2007, Magdeburg – 546
- Staatskanzlei und Ministerium für Kultur
Staatskanzlei - Pressemitteilung Nr.: 546/07
Staatskanzlei - Pressemitteilung
Nr.: 546/07
Magdeburg, den 11. Oktober 2007
Regierungserklärung von Ministerpräsident
Böhmer: ¿Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft¿
Es gilt das gesprochene Wort!
Siebzehn Jahre nach der
Wiedervereinigung Deutschlands und damit siebzehn Jahre nach der
Wiedererrichtung unseres Landes Sachsen-Anhalt ist die Nähe zu unserem Nationalfeiertag
eine verständliche Gelegenheit zu fragen, wo wir stehen und wie wir diese Zeit
genutzt haben. Dabei hätten wir auch einen anderen Bezugspunkt wählen können.
Am 21. Juli 1947, also vor 60
Jahren, wurde durch einen Befehl der sowjetischen Militärverwaltung aus der
preußischen Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt das Land Sachsen-Anhalt
gegründet. Andere Länder wie Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen oder
Niedersachsen haben ihre Gründungsjubiläen von sechzig Jahren mit einem großen
Festakt begangen. Wenn nicht die Frankfurter Allgemeine Zeitung ¿ damals
übrigens als einzige in Deutschland ¿ uns daran erinnert hätte, hätten wir
selbst es nicht einmal zur Kenntnis genommen. Wir haben dafür im November dann
gemeinsam an den 60. Jahrestag der Konstituierung des Landtages gedacht.
Im Juli 1952 wurden die Länder
in der inzwischen gegründeten DDR aufgelöst und 38 Jahre danach zum 14. Oktober
1990 zum zweiten Mal begründet. In diesen sechs Jahrzehnten sind sechs
Kreisgebietsreformen durchgeführt wurden, zwei davon seit der Wiedergründung
des Landes. Insofern ist es eher erstaunlich, wenn uns aus Umfragen berichtet
wird, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserem Land während der letzten
Jahre deutlich gewachsen sei.
Die Ergebnisse dieser
Meinungsumfrage sind es, aus der sich aus der Sicht der Landesregierung
Konsequenzen und Aufgaben ergeben, denen wir uns stellen müssen. Wir wissen,
dass wir noch vor einer unverzichtbaren Reform der kommunalen Strukturen
stehen. Die Landesregierung legt großen Wert darauf, diese Reform unter
möglichst großer Beteiligung der kommunalen Verantwortungsträger zu organisieren
und Strukturen zu finden, die für eine längere Zeit effektiv und ausreichend
sind. Es kann nicht unsere Aufgabe sein, uns unentwegt mit den eigenen inneren
Strukturen zu beschäftigen, weder in der Kommunal- noch in der Bildungspolitik,
wo die Länder auch eigene Kompetenzen haben.
Den Vorwurf, dass die Länder
ihre föderalen Kompetenzen als politische Spielwiese für Parteien missbrauchen
könnten, wollen wir nicht bestätigen.
Ich widerspreche auch dem
Vorwurf, die Landesregierung würde mit der Kommunalen Gebietsreform das
demokratische Engagement in den Gemeinden aushöhlen. 68,5 % aller Gemeinden in
Sachsen-Anhalt haben weniger als 1000 Einwohner; 39,6 % sogar weniger als 500
Einwohner. In den beiden Altmarkkreisen haben 63,5 ¿ 67,2 % aller Gemeinden
weniger als 500 Einwohner. Nach der letzten Gemeindewahl 2004 blieben in 360
Gemeinden ¿ das waren 32,1 % - nach der Wahl Ratssitze mangels Kandidaten unbesetzt,
größtenteils in den sehr kleinen Gemeinden.
Nach der Organisation
zukunftsfähiger Untergliederungen und Strukturen brauchen wir Verlässlichkeit
und Sicherheit, um uns konzentriert den anderen wichtigen Aufgaben der
Zukunftssicherung zuwenden zu können. Dabei spüren wir jetzt, dass es ein
Fehler war, beim Rückblick auf eigene Erfahrungen immer erst bei der
Wiedervereinigung Deutschlands und der Wiederbegründung unseres Bundeslandes
anzufangen. Wir werden die Erfahrungen der davor liegenden Jahrzehnte noch
brauchen für die Lösung der Probleme der Zukunft ¿ und sei es, um die damals
gemachten Fehler nicht zu wiederholen. Die Sicht unserer Bürgerinnen und Bürger
auf ihre eigene Vergangenheit und deren kritische Bewertung der gegenwärtigen
Probleme müssen wir nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern daraus auch
Konsequenzen ziehen für unsere weitere politische Arbeit.
In der
vorangegangenen Plenarsitzung hat Ihnen der Finanzminister den Haushaltsentwurf
für die Jahre 2008 und 2009 vorgelegt. Es sind die ersten Haushaltspläne ohne
Neuverschuldung seit der Wiedergründung unseres Landes. Völlig zu Recht ist
dieser Umstand gewürdigt worden. Er ist aber auch Verpflichtung. Er ist möglich
geworden durch eine günstigere wirtschaftliche Entwicklung, die in zeitlichem
und ursächlichem Zusammenhang steht mit sehr grundsätzlichen Reformen, die von
der damaligen Bundesregierung im März 2003 eingeleitet wurden.
Zu den
vielen unterschiedlichen Wahrheiten, über die wir gegenwärtig sprechen, gehört
auch, dass ähnlich mutige Reformen von Ökonomen in der ehemaligen DDR schon in
den siebziger Jahren vorgeschlagen wurden. Schon damals war deutlich, dass wir
uns hier viel größere soziale Leistungen gewährt hatten, als wir mit eigener
Wirtschaftskraft erwirtschaften konnten. Hinter verschlossenen Türen wurde viel
darüber diskutiert. Laut jetzt nachlesbaren Protokollen wurde dies abgelehnt
durch die ¿grundlegende politische Erfahrung, dass der einmal erreichte Stand
in der sozialen Versorgung nicht wieder preisgegeben werden darf¿. Die weitere
Entwicklung führte zunächst folgerichtig in die eigene Insolvenz, dann in einen
schmerzhaften Strukturwandel und gegenwärtig in eine nebulös-nostalgische Verklärung.
Da wir
alle nicht von Wunschdenken verschont bleiben ¿ wie wir uns jährlich bei den
Haushaltsberatungen beweisen ¿ ist es hilfreich, uns immer wieder an diese
eigene Vergangenheit zu erinnern.
Die gegenwärtige Kommission zur
Reform der bundesstaatlichen Ordnung wird nicht ohne Ergebnis enden. Konsens
besteht jetzt schon darüber, die Konditionen für weitere Schuldenaufnahmen
stringent zu verschärfen. Die Bündnispflicht zum solidarischen Ausgleich
zwischen den Ländern ist kein ehernes Naturgesetz und wird sicher einmal modifiziert
werden. Dass der Solitarpakt II 2019 ausläuft und bis dahin stark degressiv
ist, ist bekannt. Die Finanzhilfen aus der EU werden in der nächsten
Förderperiode nach 2013 noch wesentlich geringer werden. Zunehmend sind wir auf
die eigene Wirtschafts- und Steuerkraft angewiesen. Es wäre verantwortungslos,
eine Ausgabenpolitik zu betreiben, die nur auf die Wirtschaftskraft anderer und
Hilfen von außen setzt.
Es wird nicht einfacher, aber
deutlicher, wenn wir uns jetzt schon auf bereits bekannte Entwicklungen
aufmerksam machen.
Jährlich vermindert sich die
Zahl der Einwohner unseres Landes aus unterschiedlichen Gründen um
durchschnittlich zwischen 25.000 und 26.000 Personen. Das bedeutet jährliche
Mindereinnahmen aus dem Finanzausgleich von 70 ¿ 80 Millionen ¿.
Nach nur 17 Jahren nach der
Wiedergründung unseres Landes gehören wir zu den am meisten verschuldeten
Ländern in Deutschland. Gegenwärtig (2006) sind das 9.152 ¿ pro Einwohner, was
eine Zinslast von knapp 1 Mrd. oder 440 ¿ pro Einwohner bedeutet. Die müssen
wir jährlich zahlen, bis wir die Schulden los sind. Auch ohne weitere Neuverschuldung
steigt die personenbezogene Schuldenquote durch die Verringerung der Einwohnerzahlen.
Wenn wir diese Quote in Anbetracht der demografischen Entwicklung wenigstens
konstant halten wollen, bedeutet dies eine jährliche Tilgung von 180 ¿ 190 Millionen
¿. Erst wenn wir mehr tilgen können, beginnt die eigentliche Entschuldung. Dies
alles bei sinkenden Einnahmen aus den Finanzhilfeprogrammen.
Wer jetzt für zusätzliche auf
Dauer angelegte Ausgabenverpflichtungen des Landes wirbt, hat die Lehren aus der
eigenen Geschichte nicht verstanden. Durch geschickte Kombination verschiedener
Förderprogramme der EU und vom Bund bemühen wir uns, Landesmittel zur
Kofinanzierung zu reduzieren. Im Ländervergleich führt das dazu, dass wir pro
Einwohner zwar die höchsten Ausgaben leisten, aber für Investitionen die
geringsten Landesmittel einsetzen. Mit dem Wegfall der Finanzhilfen von außen käme
das Land in eine sehr schwierige Situation, wenn wir für den nichtinvestiven
Bereich neue Verpflichtungen gesetzlich begründen würden.
Deshalb wird die Landesregierung
auf Vorschlag des Finanzministers mehrere Haushaltsstabilisierungsmechanismen
einbauen, für die ich jetzt schon ihre Zustimmung erbitte. Dazu gehören der
aufzubauende Pensionsfonds und die geplante Investitions- und Zukunftsstiftung
für unser Land. Mit der letztgenannten wollen wir den Vermögensstatus des Landes
stabilisieren und später einmal mehren.
Außerdem brauchen wir den Aufbau
einer Steuerschwankungsreserve, um nicht bei sinkenden Einnahmen sofort zur
Neuverschuldung gezwungen zu sein. Die Zinserträge dieser Fonds sollen die
Zinstilgung für den Schuldenberg erleichtern.
Schwierig ist immer noch die
Steuerung der Personalkosten und der großen Personalkörper Polizei und Lehrer.
Bei beiden haben wir Überhänge und Defizite, die sich nicht gegenseitig
ausgleichen können. Bei beiden brauchen wir noch Personalabbau und einen
gestaffelten Einstellungskorridor. Dafür wurden mehrjährige Konzeptionen
entwickelt. Nach den vom Finanzminister geleiteten Vorgesprächen bestehen
berechtigte Hoffnungen, mit den Tarifpartnern auch für die Lehrer zu
erfolgversprechenden Verhandlungen zu kommen.
Schon die bundesgesetzlichen
Pflichten belasten uns.
Es gilt als unstrittig, dass die
gleichen bundeseinheitlichen Ausgabenverpflichtungen für Länder und Kommunen
unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie sind abhängig von sozialen Parametern
wie Arbeitslosigkeit und der demografischen Struktur der Bevölkerung und müssen
durch die eigene Wirtschaftskraft ausgeglichen werden. Beispiele sind das
Wohngeld und die soziale Grundsicherung bei den gebrochenen Erwerbsbiografien
der jetzigen und besonders der zukünftigen Rentnergenerationen bei uns.
Für uns ist Wirtschaftspolitik
deshalb nicht Selbstzweck. Aber die Stärkung der eigenen Wirtschaftskraft ist
der einzige Weg in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Nicht unter den
abschirmenden Schutzstrukturen eines abgeschlossenen Wirtschaftsraumes mit
nichtkonvertierbarer Binnenwährung, sondern in einem offenen System globaler
Zusammenarbeit und weltweitem Wettbewerb müssen wir uns bewähren. Die uns zur
Verfügung gestellten finanziellen Hilfen sind als Unterstützung zum Aufbau der
Selbsthilfe gedacht und nicht zur Daueralimentierung. Wir sind dankbar dafür.
Erfolgreich werden wir nur sein, wenn wir den Ehrgeiz, den Stolz und die Kraft
aufbringen, möglichst bald nicht mehr darauf angewiesen zu sein.
Wir müssen auch jene Mentalität
überwinden, die das eigene Selbstwertgefühl vom Maßstab anderer abhängig macht.
Natürlich braucht eine Leistungsbewertung Maßstäbe aus Vergleichen. Das gilt
nicht nur im Sport, sondern auch in allen Politikfeldern. Es gibt Bereiche, in
denen wir besser sind und andere, in denen wir noch schlechter sind als vergleichbare
westdeutsche Länder. Wir jubeln nicht über die einen, weil sie mit fremdem Geld
finanziert werden und wir lamentieren nicht über die anderen, weil sie Folgen
einer früheren Politik in dieser Region sind. Aber wir sollten uns in der
Zuversicht gegenseitig ermuntern, die Erfolge bald selbst finanzieren und die
Defizite systematisch ausgleichen zu wollen.
Ursprünglich hatte ich ein
ganzes Zahlenwerk vorbereitet um im 18. Jahr der Wiedervereinigung den eigenen
Leistungsstand im Vergleich zu den westdeutschen Flächenländern oder den
anderen neuen Bundesländern zu messen. Ich halte das auch für jeden Fachausschuss
für notwendig und bitte darum. Es schien mir aber mit der Würde und dem Selbstbewusstsein
unseres Landes nicht vereinbar, uns an dieser Stelle immer nur an Anderen zu
messen. Wir wollen unseren eigenen Weg gehen. Wir kennen unsere Probleme. Wenn
wir die richtigen Prioritäten setzen, werden wir auch die Kraft haben sie zu
lösen. Aber eben nur dann. Diese Kraft schöpfen wir aus den Erfahrungen unserer
eigenen Geschichte.
Es gehört zu den Vorteilen eines
föderalen Systems, unterschiedliche Wege und Strukturen gehen zu können. In
einigen Gestaltungsbereichen stellen wir jetzt fest, dass andere Länder mit
einem geringeren Mitteleinsatz gleiche oder sogar bessere Erfolge haben. Ich
bitte jeden Fachausschuss sich darüber zu informieren. Dann ist für uns eine
kritische Strukturreform wichtiger als mehr Geld für ein nicht effektives
System. Wenn wir uns unkritisch selbst für optimal halten und nur mehr Geld
fordern, würden wir die Chancen des Föderalismus ungenutzt lassen. Deshalb
bitte ich in allen Bereichen zu beobachten wie andere Länder die meist gleichen
Probleme lösen. Es ist bestimmt falsch, alles immer nur auf Finanzierungsprobleme
zu reduzieren.
Wir in diesem Teil Deutschlands,
wir haben allein durch die Wiedervereinigung einen Transformationsprozess aller
gesellschaftsrelevanten Strukturen hinter uns, der uns auch Erfahrungen gelehrt
hat im Umgang mit Reformen, die das gesamte Deutschland noch brauchen wird. Das
begann mit der Einbeziehung in den Rechtsrahmen des Grundgesetzes und damit
einer Änderung fast aller Rechtsnormen und neuen Rechtsstrukturen. Diese
Reformen sind erstaunlich konfliktarm verlaufen. Manches wurde auch vom
Grundsatz her missverstanden. Die bittere Aussage: Wir wollten Gerechtigkeit
und bekamen den Rechtsstaat vermischt unzulässig die Begriffe. Niemand würde
formulieren: Wir wollten Gesundheit und bekamen das Gesundheitswesen. Der
Rechtsstaat ist eine Struktur, die sich an selbstgesetzte Normen bindet,
Willkür vermeiden und das Suchen nach Gerechtigkeit befördern soll. Mehr als
mit der Verpflichtung unter vergleichbaren Bedingungen und Voraussetzungen
unabhängig von der Person nach gleichen Regeln zu entscheiden, wird sich eine
Gesellschaft der gefühlten Vorstellung von Gerechtigkeit nicht nähern können.
Mit dem Begriff der ¿sozialen¿
Gerechtigkeit, mit dem politische Parteien im Wettbewerb argumentieren ohne ihn
präzis zu definieren, wird diese Undeutlichkeit noch größer. Sie macht einen
großen Teil der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion über unser Selbstverständnis
aus. Sozialwissenschaftler ermitteln in allen Teilen Deutschlands zunehmend den
verbreiteten Eindruck von wachsender Ungerechtigkeit. Bei der Frage nach den eigenen
Vorstellungen von Gerechtigkeit gehen die Antworten weit auseinander. Eine große
Mehrheit plädiert dafür, dass ¿der Staat für alle, die arbeiten wollen, einen
Arbeitsplatz zur Verfügung stellen¿ sollte. Das kommt uns nicht unbekannt vor.
Deshalb haben wir auch mit dem Projekt ¿Bürgerarbeit¿ begonnen. Nach unserer
Vorstellung gehört es zur Würde des Menschen, dass er nicht nur mit Geld
getröstet wird, sondern dass wir jedem eine wie auch immer geartete
gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen wollen. Solange die Umstände es uns
ermöglichen, wollen wir dieses Projekt fortsetzen. Diejenigen, die sich selbst
als Verlierer der Wiedervereinigung bezeichnen, werden wir nicht aufgeben. Wir
werden auch weiter versuchen, sie zu integrieren. Der beste Weg ist der über
einen Arbeitsplatz.
Ein zugegeben schwieriges
Problem in einer offenen, dem Rechtsstaatsgedanken verpflichteten Gesellschaft
ist der Widerstand gegen gesellschaftspolitisch extreme Aktivitäten.
Geschlossene Gesellschaften mit eigener Staatsdoktrin lösen solche Probleme mit
uns bekannten Methoden staatlicher Machtanwendung. Eine offene Gesellschaft
muss aushalten, was sie nicht verbieten kann. Das heißt aber nicht, dass wir
alles unwidersprochen hinnehmen müssten. Unterschiedliche Urteile der verschiedenen
Ebenen der Rechtsprechung beweisen nur die Schwierigkeiten dabei. Umso
wichtiger ist es, die eigene Bevölkerung gegen diese Denkinhalte zu
immunisieren.
Als während des letzten
Sachsen-Anhalt-Tages überraschend eine kleine Gruppe verirrter Rechtsextremer
durch die Straßen zog, haben sich erfreulich viele umgedreht und diese
demonstrativ gering schätzend einfach ignoriert. Schneller war noch nie ein
solcher Spuk zu Ende. Je besser es uns gelingt, für die Akzeptanz
demokratischer Strukturen zu werben, umso geringer wird die Empfänglichkeit für
dieses Gedankengut. Wir wissen, dass wir damit in den Schulen aber auch bei
manchen Familien beginnen müssen.
Unserem Netzwerk für Demokratie
und Toleranz haben sich inzwischen 268 Organisationen und Vereine
angeschlossen. Nur mit einer breiten und im einzelnen sehr unterschiedlichen Bewegung
werden wir die Menschen erreichen und erfolgreich sein. Die gewollte Offenheit
unserer Gesellschaft zwingt uns, durch Überzeugung jene Akzeptanz zu erreichen,
die eine andere Gesellschaft mit staatlicher Gewalt erzwingen wollte. Wir haben
dieses Ziel noch nicht erreicht. Wir wissen aber auch, dass wir unsere
Offenheit wieder verlieren würden, wenn wir es nicht erreichen sollten. Das
sichert uns die Zustimmung vieler, denen das offene Selbstverständnis gelebter
Demokratie wichtig ist.
Es ist unverzichtbar, uns an das
Ende der sog. Weimarer Demokratie zu erinnern, die nach nur 14 Jahren von einer
gewählten Diktatur abgeschafft wurde. Bereits 1930 hatte der für den Zeitgeist
sensible Thomas Mann in seiner berühmten ¿Deutschen Ansprache¿ als Appell an die
Vernunft die ¿primitiv-massendemokratische Jahrmarktsrohheit¿ angeprangert und
von einer Kulturnation erwartet, dass diese nicht einer ¿verstandesschlichten,
strammen Biederkeit nationaler Simplizität¿ verfällt. Da jeder weiß wie die
Geschichte weiterging, gilt es den Anfängen zu wehren und z. B. diese Rede auch
in jeder Schule zu erklären.
Es ist unbestritten, dass
schwierige soziale Probleme die Akzeptanz für demokratische
Entscheidungsfindung eher belasten als begünstigen. Aus den alten Bundesländern
sagen uns Fachwissenschaftler, dass es dort in den frühen 50er Jahren durchaus
noch kein gefestigtes Demokratieverständnis gab und dass dies erst mit dem
wirtschaftlichen Aufschwung zu Beginn der 60er Jahre gewachsen sei. Unter dem
schwierigen wirtschaftlichen Transformationsprozess sollten wir uns deshalb
derzeit nicht überfordern. Aber es wäre sicher falsch, dies jetzt nicht als
unsere Aufgabe zu erkennen.
Die wirtschaftliche Entwicklung
läuft gegenwärtig für deutsche Verhältnisse relativ gut. Auch wir profitieren
davon. Wie im Vorjahr haben wir auch im 1. Halbjahr diesen Jahres
überdurchschnittliche Wachstumsquoten mit steigenden Exportanteilen. Es gibt
weiterhin einen Zuwachs an versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnissen und
zunehmenden Bedarf an Facharbeitern. Darauf wird die Arbeitsverwaltung mit ganz
gezielten Qualifizierungsangeboten reagieren. Bis September konnten in diesem
Jahr 173 gewerbliche Investitionsvorhaben umgesetzt werden mit einem Gesamtvolumen
von 800 Mio. ¿ als Grundlage für 3.200 neue Dauerarbeitsplätze. Erfreulich ist
die Zahl von 120 Erweiterungsinvestitionen in diesem Jahr als Zeichen des
eigenen Wachstums. Derzeit laufen Verhandlungen mit mehreren potentiellen
Investoren auch größerer Projekte, von denen bis Ende des Jahres Entscheidungen
über ein Volumen von mehr als 500 Mio. ¿ erwartet werden. Damit werden weitere
ca. 800 neue Arbeitsplätze verbunden sein. Auch die anderen Ländern berichten
über ähnliche Entwicklungen.
Nach der abgeschlossenen
Transformation der Staats- und Rechtsstrukturen und nachdem der wirtschaftliche
Transformationsprozess seine Talsohle durchschritten hat, müssen wir jetzt
selbstkritisch feststellen, dass wir dem mentalen Transformationsprozess zu
wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben.
Mit der Wiedervereinigung sind
wir in kürzester Zeit in die Strukturen einer offenen Gesellschaft gekommen,
die wir wollten, aber auf die wir nicht vorbereitet waren. Am Beispiel eines
Buches wird dies deutlich. 1989 veröffentlichte der in Magdeburg geborene,
philosophisch gebildete ehemalige Nomenklaturkader der SED, Rolf Henrich, beim
Rowohlt-Verlag in Hamburg sein Buch über den vormundschaftlichen Staat. Es ist
eine brilliante Abrechnung mit dem DDR-Regime, wofür er nicht gelobt wurde. Das
Buch war hier verboten, wurde heimlich gelesen und viel diskutiert und
geschätzt. Nach der Öffnung der Mauer wurde es Anfang 1990 vom
Kiepenheuer-Verlag nur für die DDR nachgedruckt und jeder konnte es kaufen. Nur
noch Wenige haben sich dafür interessiert.
Wir alle waren zu sehr mit uns
selbst beschäftigt und mit der Lösung aktueller Probleme im ständigen Wandel.
Niemand hatte Zeit für demokratietheoretische Diskussionen. Wenn wir jetzt aus
dem Sachsen-Anhalt-Monitor erfahren, dass eine überwiegende Mehrheit das
Demokratieprinzip als erstrebenswert empfindet, aber über die von uns
praktizierte Art ein noch größerer Teil unserer Bürger schwer enttäuscht ist,
dann können wir nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Manches abgegebene
Urteil empfinde ich als ungerecht. Aber die repräsentative Demokratie ist
erklärungsbedürftig. Die Sachzusammenhänge, aus denen heraus wir entscheiden
müssen, sind es auch. Wir müssen uns mehr Zeit nehmen, sie zu erklären.
Ich bin dankbar für jeden
schüchternen Versuch unserer Medien, einen solchen klärenden Diskussionsprozess
zu begleiten. Sie müssen das in ihren eigenen Strukturen gestalten. Die Analyse
der jeweils eigenen Zwänge, die Tony Blair in seiner Rede beim Abschied aus dem
Amt über die Medien in unserer Gesellschaft beschrieben hat, trifft auch auf
uns in Sachsen-Anhalt zu. Trotzdem frage ich mich, warum wir uns immer nur mit
der Repressionspolitik der ehemaligen DDR beschäftigen, so schmerzhaft diese
auch war, und nicht mit der sozial motivierten Umverteilungspolitik in einem
zwangsläufig abgeschotteten Wirtschaftsraum, die genau diese Repressalien
notwendig gemacht hat. Eine offene Analyse des sog. Schürer-Berichtes vom
Oktober 1989 ist bisher nur in der Fachliteratur erfolgt.
Vor etwa einem Jahr war ich zu
einem 10-jährigen Betriebsjubiläum nach erfolgreicher Zweitprivatisierung in
einem Motorenwerk eingeladen. Gleichzeitig feierte der Betrieb sein 60-jähriges
Bestehen. Der Investor hatte einen zweistelligen Millionenbetrag investiert und
war stolz über die steigende Umsatzentwicklung und auf seine guten Mitarbeiter.
Es wurden auch wieder neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Sprecher der
Mitarbeiter kritisierte massiv die Treuhand, die diesen Betrieb über viele
Jahre nicht losgeworden war. Lobend wurde erwähnt, dass sie schon zu DDR-Zeiten
viel in das NSW-Gebiet exportiert hätten und zweimal Messe-Gold bekamen. Häufig
hätten sie ihre Normen nicht nur erfüllt, sondern sogar übererfüllt. Einen
solchen Betrieb nicht für wettbewerbsfähig zu halten, wäre schlicht eine
Demütigung. Was er offenbar nicht wusste war, dass seine Motoren im NSW-Ausland
nur unter den Herstellungskosten verkaufbar waren und dass die Deckung über den
Staatshaushalt durch Kaufkraftabschöpfung an anderer Stelle erfolgte. Damit
konnte kein Investor mehr rechnen. Erst nach erheblichen Modernisierungsinvestitionen,
nach Strukturbereinigungen und Entlassung vieler ehemaliger Mitarbeiter wurden
Stückkosten erreicht, die in einem offenen Markt umsetzbar waren. Wenn wir uns
nicht die Zeit nehmen, uns solche Zusammenhänge immer wieder zu erklären, bleibt
viel unnötige Bitterkeit übrig und ein verklärter Rückblick auf eine vergangene
Zeit. Die Treuhand hatte übrigens sechs Jahre lang das jährliche Defizit dieses
Betriebes in Millionenhöhe ausgeglichen, weil sie ihn unbedingt erhalten wollte
und für prinzipiell privatisierungsfähig gehalten hatte. Das hätte man auch
sagen können.
Die gegenwärtigen sozialen
Leistungen werden mit einem verklärenden Rückblick auf die Sozialpolitik der
DDR gemessen. Das ist menschlich verständlich, aber sachlich falsch. Zur
Wahrheit gehört auch, dass die Sozialleistungen finanziert wurden unter
Verzicht auf Modernisierungsinvestitionen in den Betrieben und durch
Verschuldung. Hätte die DDR weiter existieren müssen, hätten die
Sozialleistungen um mindestens ein Drittel reduziert werden müssen. Nach
eigener Einschätzung wäre sie dadurch unregierbar geworden. Da dieser Staat
nicht weiter existieren musste und die Verbindlichkeiten von der Bundesregierung
übernommen wurden, war für viele nicht einmal erkennbar, in welches Desaster
wir uns hineingewirtschaftet hatten. Deshalb ist der DDR-Rückblick auch als
Maßstab falsch zur Beurteilung unserer Probleme und zukünftiger Entscheidungen.
Wenn beispielsweise 59 % der
Befragten in unserem Land das Angebot der Gesundheitsversorgung während der
DDR-Zeit als besser als heute beurteilen, ist das eine einseitige Sicht. Damals
gab es keine Zuzahlungspflicht, grundsätzlich kostenlose Leistungen und eine
nutzerfreundliche Organisation in Behandlungszentren. Das ist unbestritten.
Wahr ist aber auch, dass 1975
fast 80 % aller Krankenhäuser der DDR älter waren als das Jahrhundert und
dringend sanierungsbedürftig. Seit 1991 haben wir ca. 3,2 Mrd. ¿ in die
Krankenhäuser unseres Landes investiert. Die enorme Erweiterung der diagnostischen
und therapeutischen Möglichkeiten haben dazu geführt, dass in nur 17 Jahren
sich die durchschnittliche Lebenserwartung unserer Männer und Frauen um 4 ¿ 5
Jahre verlängert hat. Zusätzlich zu allen staatlichen Finanztransfers sind im Regelkreis
der GKV jährlich insgesamt 3,5 Mrd. ¿ und im Regelkreis der GRV jährlich ca.
13,5 Mrd. ¿ von West nach Ost geflossen. Dass eine wesentlich verbesserte
Betreuung auch mehr Geld kostet, kann man überzeugend erklären. Der Einwand,
dass das ¿die anderen¿ bezahlen sollen, ist dagegen nicht überzeugend. Ich
vermute, die genannten 59 % würden auch nicht auf die teuren Möglichkeiten des
modernen Gesundheitswesens verzichten wollen.
Dass Sozialpolitik in einer
geschlossenen Gesellschaft auch ganz andere Funktionen hat, hat Friedrich A.
Hayek schon 1944 in seinem berühmten Buch ¿Der Weg in die Knechtschaft¿
beschrieben. Es ist zwar 1990 und 2003 noch einmal aufgelegt worden, aber wer
in unserem Land wird das schon gelesen haben? Über die Strukturen und
Konsequenzen einer offenen Gesellschaft hat Karl Popper schon 1957 geschrieben.
Mehrere Generationen im westlichen Teil Deutschlands kennen es. Es ist 2003 in
8. Auflage wieder erschienen. Ich konnte nicht erfahren, ob es im
Sozialkundeunterricht unserer Schulen überhaupt erwähnt wird.
Die aus allen Befragungen
deutlichen Bewertungsunterschiede bei gesellschaftlichen
Kommunikationsbegriffen zwischen Ost- und Westdeutschen ist nicht nur die Folge
unterschiedlicher sozialkundlicher Ausbildung. Etwa 57 % unserer
Sozialkundelehrer haben für dieses Fach noch keinen Qualifizierungsnachweis.
Zusammen mit der Landeszentrale für politische Bildung werden wir in einer
Bildungsoffensive diese demokratietheoretischen Grundlagen und
Sachzusammenhänge besser vermitteln müssen. Die Fortführung der universitären
Nachqualifizierung und die Lehrerfort- und Weiterbildung im Fach Sozialkunde
ist eine zwingende Konsequenz aus den Befragungsergebnissen.
Auch der Umgang mit der von uns
allen gewollten Freiheit ist nicht im Selbstlauf erlernbar. Er ist sogar
schwieriger als vermutet. Wer Freiheit will, muss auch lernen, mit Unterschieden
zu leben und mit der Qual eigener Entscheidungen. Zur Erläuterung darf ich
Erfahrungen aus dem Kultusministerium berichten.
Noch nie hatten die Hochschulen
unseres Landes soviel innere Autonomie wie jetzt. Früher bekam der Minister
häufig Beschwerdebriefe wegen seiner Entscheidungen in die angemahnte innere
Hochschulautonomie hinein. Jetzt ist mit den Rahmenzielvereinbarungen den
Hochschulen ein noch größerer Entscheidungsbereich zugestanden. Seitdem bekommt
der Minister Briefe mit der Aufforderung, Dinge anzuordnen, über die man sich
untereinander nicht einigen kann.
Das nicht nur einmal, sondern
immer öfter. Auch die Kommunalaufsicht kennt solche Anliegen. Deshalb habe ich
Verständnis dafür, wenn nicht Wenige unserer Bürger sich allein gelassen
fühlen, weil sie Dinge entscheiden sollen, die früher der Staat für sie entschieden
hat. Nicht Wenige sagen dann, der Staat oder die Abgeordneten kümmerten sich
nur noch um sich selbst und nicht mehr um die Bürger im Land. Hier würde ein
formal aufklärendes Gespräch vermutlich mehr schaden als helfen. Dass Freiheit
in einer offenen Gesellschaft mehr ist als Reisefreiheit, ist unbestritten.
Eine unvorbereitete Entlassung aus einem vormundschaftlichen Staat in die
eigene Mündigkeit ist ohne solche Anpassungsprobleme nicht denkbar. Nur wenn
wir uns einlassen auf viele solcher Gespräche werden wir davon überzeugen
können, dass auch gewählte Abgeordnete nicht für alles zuständig sein können
oder sein dürfen.
Damit kommen wir zu Problemen,
die weit über unsere Region und Gesellschaft hinaus gehen. Eine offene
Gesellschaft wäre eine sinnentleerte Gesellschaft, wenn sie ohne innere
Bindungswerte bliebe. Sie ist anfällig für ideologische Versprechungen und nur
gewachsenen und gefestigten Demokratien zumutbar. Gesellschaften werden zusammengehalten
durch einen Grundbestand verbindlicher Werte und eine motivierende Idee.
Bisher waren das immer
Hoffnungen, die über das eigene Leben hinaus reichten. Der Historiker Joachim
Fest nannte die Idee des Sozialismus eine letzte große Gesellschaftsutopie, die
ein pseudoreligiöses Welterklärungssystem bot mit der Verheißung auf wachsenden
Wohlstand. Für diese Idee sind hunderte Menschen gestorben und im Namen dieser
Idee viele tausende verbannt oder hingerichtet worden.
Nach dem Scheitern der Utopien
entstünde überall Orientierungsnot und Unsicherheit . Das individuelle Streben
nach Wohlstand in einer Wettbewerbsgesellschaft ist sicher keine Idee, die
Menschen zusammen hält. Insofern bestünde eine große Verführbarkeit durch neue
Heilslehren und Kameradschaftsangebote. Vieles spricht dafür, dass wir das auch
in unserem Land erleben.
Offene Gesellschaften sind
besonders dann verführbar, wenn soziale Probleme Zweifel am Funktionieren der
Demokratie aufkommen lassen. Diese Zweifel sind uns durch Umfragen bestätigt
worden. Deshalb haben wir mehrere Programme aufgelegt, die die schulische
Ausbildung verbessern und die berufliche Eingliederung auch für Problemjugendliche
erleichtern sollen. Deshalb ist es aber auch notwendig, ein gemeinsames Verfassungs-
und Demokratieverständnis aufzubauen und ein auf Toleranz und Respekt vor der
Würde des Anderen beruhendes verbindliches Wertegerüst zu vereinbaren. Dass
kann auch eine offene Gesellschaft zusammenhalten.
Wenn die günstige
wirtschaftliche Entwicklung noch deutlicher den Arbeitsmarkt entlastet, wird
sie auch deutlicher in der Bevölkerung erlebbar sein. Deshalb werden wir in
diesem Bereich auch weiterhin unsere Prioritäten setzen. Erfolg schafft
Selbstvertrauen und Selbstbestärkung. Damit dürfte auch das Vertrauen in jene
Strukturen wachsen, die diesen Erfolg mit aufgebaut haben. Die schon mehrfach
benannte Umfrage hat aber auch gezeigt, wie viel unsere Bürger von uns erwarten
und wie viele von uns enttäuscht sind.
Wir haben gemeinsam die Chance,
besser zu werden. Dabei werden wir aber noch viel Verständnis füreinander
brauchen.
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