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Pressemitteilungen der Ministerien

Rede von Innenminister Dr. Püchel bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge

23.11.2001, Magdeburg – 172

  • Ministerium für Inneres und Sport

 

 

 

 

Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 172/01

 

 

 

 

 

Ministerium des Innern - Pressemitteilung Nr.: 172/01

 

Magdeburg, den 23. November 2001

Sperrfrist: 15:30 Uhr

Es gilt das gesprochene Wort!

Rede von Innenminister Dr. Püchel bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung in der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge

Es gab Zeiten im Verlauf der jüngeren deutschen und europäischen Geschichte, in denen Menschen das Recht auf Selbstbestimmung und Individualität vorenthalten wurde. In diesem Lager, dessen Geschichte die heute einzuweihende Dauerausstellung zu erzählen versucht, lebten wohl nicht einmal alle Aufseher freiwillig, geschweige denn die Häftlinge. Tausende unschuldige KZ-Insassen wurden hier eingepfercht, entrechtet, erniedrigt, zu unmenschlichen Arbeitsleistungen unter entsetzlichen Lebensbedingungen gezwungen. Die ersten von ihnen kamen im April 1944, die letzten im Februar/März 1945.

Die KZ-Sklaven des Lagers in Langenstein-Zwieberge lebten hier nicht einmal ein Jahr, oft nur wenige Monate. Aus unterschiedlichen Gründen waren sie in die Fänge der Nationalsozialisten geraten und auf verschiedenen Wegen nach Langenstein-Zwieberge gekommen. Sie wurden verschleppt:

der 1927 geborene ukrainische Jugendliche, dessen Vater bereits 1932 und 1938 von Stalin als "Volksfeind" verhaftet worden war, der 1942 als Zwangsarbeiter nach Hamburg verschleppt wurde, ehe er ab Juni 1944 im Alter von 17 Jahren im Stollen schuften musste;

der von der Gestapo im Juli 1944 verhaftete, damals 33jährige französische Geistliche, der ab November 1944 in Langenstein als Elektriker arbeitete;

der 23jährige lettische Medizinstudent, der ab August 1944 als Pfleger im Krankenrevier gegen den hundertfachen Tod seiner Kameraden ankämpfte,

der 25jährige Deutsche jüdischen Glaubens, dem bei Kriegsausbruch im Jahre 1939 die Flucht nach Holland geglückt war, der im Juli 1944 in Paris gefangen genommen und am 13. November 1944 nach Langenstein überstellt wurde;

der kaum 16jährige Pole jüdischen Glaubens, den die Nazis im Februar 1945 aus dem KZ Groß Rosen in Schlesien über Buchenwald nach Langenstein-Zwieberge verschleppten.

Haben sich diese Menschen in Langenstein-Zwieberge je gesehen, haben sie je miteinander gesprochen? Wir wissen es nicht. Doch: Nicht nur die unterschiedlichen Sprachen erschwerten die Verständigung der aus vielen Ländern Europas stammenden Häftlinge, auch die allgemeinen Lagerbedingungen ließen die ungehinderte Kommunikation nur sehr bedingt zu: der harte Arbeitstag, die endlosen Zählappelle, die von der SS organisierte Mangelwirtschaft, die unmenschlichen Lebensbedingungen und die damit sammenhängende Entsolidarisierung der Häftlinge.

Dem Ukrainer wurde nach eigenen Aussagen das überleben auf dem Todesmarsch erleichtert, weil er seit seiner frühesten Jugend in der durch die stalinsche Politik verursachten Hungerperiode essbare Gräser, Knospen und Wurzeln kannte. Ihm gelang die Flucht am 18. April 1945. Die US-Armee, die ihn fand, überstellte ihn an die Sowjetunion, die den knapp 37 kg wiegenden 17-Jährigen sofort in die Rote Armee eingliederte, in der er bis 1950 seinen Dienst versah. Immerhin bewahrte ihn diese Eingliederung in die Rote Armee vor weiteren Repressalien, wie sie andere sowjetische KZ-Inhaftierte nach ihrer Rückkehr in der Sowjetunion zu erdulden hatten.

Der Franzose konnte zwei Tage nach dem Ukrainer vom Todesmarsch fliehen. Er nahm nach seiner Rückkehr in seiner Heimatstadt die Tätigkeit als Geistlicher wieder auf. Er verstarb im Jahre 1998.

Der Lette schloss nach der Heimkehr sein Medizinstudium erfolgreich ab. Er arbeitete anschließend als Lungenfacharzt in einer Tuberkuloseheilstätte. Seit den 50er Jahren betätigte er sich sehr erfolgreich als Schriftsteller. Er erhielt hohe nationale und internationale Auszeichnungen und war seit 1992 Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften Lettlands. Vor einem Jahr ist er verstorben.

Der deutsche Jude kehrte nach dem Krieg seinem Heimatland, das für ihn wohl keine Heimat mehr war, den Rücken und emigrierte nach Holland, wo er im vergangenen Jahr verstarb.

Der junge Pole überlebte, weil er sich unter Leichenbergen versteckte, als die SS im April 1945 die Häftlinge für den Todesmarsch zusammentrieb. Ihn pflegte im Frühjahr und Sommer 1945 eine Halberstädter Familie bis er weiterziehen konnte.1947 emigrierte er in die USA. Dort betreibt er heute ein Delikatessengeschäft.

Die fünf vorgestellten Menschen stehen für das Schicksal Tausender Häftlinge und ebenso für die Leiden jener Völker, über die Hitlerdeutschland Krieg, Not, Unterdrückung und letztlich tausendfach Tod brachte. Sie verkörpern darüber hinaus jene überlebenden Häftlinge, die zu Recht fordern, dass die von den Nazis an ihnen begangenen Menschenrechtsverletzungen nicht vergessen werden, damit sich derartige Geschehnisse nicht wiederholen können.

Der bei seiner Einlieferung in das KZ Langenstein-Zwieberge 16jährige Pole sagte im Alter: "Ich erinnere mich, weil dies eine Chance für mich ist, wieder ruhig schlafen zu können, dies nicht noch einmal erleben zu müssen... Nur, wenn die Welt sich erinnert, ist es noch nicht zu spät..."

So unterschiedlich sich die Wege der Opfer nach ihrer Befreiung auch gestalteten, so war ihnen doch gemeinsam, dass die wenigen in Langenstein verbrachten, furchtbaren Monate sie für ihr ganzes Leben prägte. Langenstein wurde für sie zum Schlüsselerlebnis, dass jeder auf seine eigene, individuelle Art verarbeitete. Viele reagierten zunächst mit Verdrängung und Schweigen, manch einen hat es an seinem Lebensabend wieder an diesen Ort verschlagen, um der hier begrabenen Kameraden zu gedenken oder sich seiner eigenen Biographie zu versichern. Einige der Opfer haben ihre Erinnerungen an die Hölle von Langenstein-Zwieberge zu Papier gebracht. Ein ehemaliger Häftling fertigte nach Angaben von Paul Le Goupil einen Stempel an, der neben seiner Berufsbezeichnung folgende Angaben enthielt:

"Politischer Häftling in Buchenwald

und im Malachitstollen

wo 1300 von 6000

im März 1945 an Erschöpfung starben."

Abgesehen davon, dass die Zahlenangaben unkorrekt sind, lässt die Art und Weise, wie diese biographischen Details verbreitet wurden, erahnen, wie nachhaltig dieser Mensch durch das Martyrium Zwieberge geprägt wurde.

Bis Mitte der 90er Jahre war in dem Gebäude, in dem wir uns heute befinden, eine Ausstellung zu sehen, die die Lagerwirklichkeit verzerrt wiedergab, ganze Häftlingsgruppen aussparte und die Opfer des Lagers zu antifaschistischen Widerstandskämpfern stilisierte. Sie befand sich in einem abgelegenen Teil des Gebäudekomplexes auf nur wenigen Quadratmetern. Häftlingen aus dem Westen wurde zu DDR-Zeiten erklärt, die Untertageanlage sei gesprengt worden, während gleichzeitig die NVA genau diese Anlage für eigene Zwecke umbaute. Zur selben Zeit kümmerten sich Hunderte engagierte Menschen um die Gestaltung der Gedenkstätte, opferten Zeit und Kraft, wirkten ganz im Vermächtnis der Opfer dieses Lagers. So steht die Geschichte der Gedenkstätte paradigmatisch für die Gedenkstättenarbeit in der DDR.

Doch bei aller Kritik lassen wir uns nicht beirren in unserer Einschätzung und Argumentation. Gerade vor einigen Tagen haben Frau Hildegart Hamm-Brücher und der ehemalige Bremer Bürgermeister Hans Koschnick auf einer Veranstaltung in Magdeburg betont, wie schwer sich auch die alte Bundesrepublik mit der Frage des Erinnerns an die nationalsozialistische Diktatur getan hat. Nach Aussage von Hans Koschnick hat es immerhin mehr als 50 Jahre gedauert, ehe ein bayerischer Ministerpräsident die Gedenkstätte Dachau besucht hat.

Der Verweis auf diese Sachverhalte soll und kann die schweren Versäumnisse der DDR-Gedenkstättenpolitik nicht beschönigen, aber er soll uns mahnen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen.

Die Geschichte des KZ Außenlagers Langenstein-Zwieberge umfassend darzustellen, ist schlicht unmöglich. Doch sind wir es den Opfern schuldig, über die Ereignisse der Jahre 1944/45 zu berichten. Die tagespolitischen Ereignisse verdeutlichen, wie wichtig es ist, antidemokratischen Kräften möglichst umfassend den Nährboden zu entziehen und unsere demokratische Gesellschaft zu stärken. Ich brauche deshalb wohl nicht zu betonen, wie froh ich bin, dass nach über 50 Jahren nun erstmals der Versuch unternommen wird, auf der Grundlage systematischer wissenschaftlicher Recherchen die Geschichte dieses Lagers zu erzählen. Dafür darf ich jenen danken, die sich seit Jahren um die Realisierung des Projektes bemühten.

Grundlage der Gedenkstättenarbeit sollen zukünftig die mit wissenschaftliche Methoden ermittelten historischen Kenntnisse ¿ und nichts anderes ¿ sein. Deshalb sei an dieser Stelle betont, dass mit dem heutigen Tage die Forschungen zur Geschichte des KZ-Außenlagers Langenstein-Zwieberge nicht aufhören, sondern sozusagen auf höherem Niveau fortgesetzt werden. Die Ergebnisse der weiteren Forschungen werden sich in eventuellen Präzisierungen der Ausstellung niederschlagen.

Die Eröffnung der neuen Dauerausstellung ist für die Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge eine Zäsur. Auf ihrer Grundlage werden sich die Möglichkeiten für die Bildungs- und Erinnerungsarbeit am historischen Ort des Geschehens spürbar verbessern. Ich hoffe, dass die auf der Basis dieser Ausstellung in den nächsten Wochen zu entwickelnden gedenkstättenpädagogischen Konzepte von möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern, aber auch und insbesondere von den Jugendlichen angenommen werden.

Wir werden zunächst im Außengelände die erforderlichen Unterhaltungs- und Sanierungsmaßnahmen und die notwendigen Umgestaltungen durchführen. Darüber hinaus ist es das erklärte Ziel der Landesregierung, die Untertageanlage mittelfristig herzurichten und in die Gedenkstätte einzubeziehen. Das wird, das darf ich hier in aller Ehrlichkeit sagen, nicht einfach sein.

Zusammen gekommen sind wir am heutigen Tage aber, um die neue Dauerausstellung der Gedenkstätte Langenstein-Zwieberge einzuweihen und ¿ wenn man so sagen darf ¿ in Besitz zu nehmen. Ich bin ebenso wie Sie sehr gespannt auf das Ergebnis der mehrjährigen Arbeit und eröffne hiermit die Ausstellung.

 

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